© Ricardo Porto
Von Alice Blohmann | 13. April 2019
Wird Inhalt überbewertet?

Es gibt eine weit verbreitete Rhetorik-Regel, die besagt, dass die Wahrnehmung und Wirkung einer gesprochenen Botschaft zu 55% von der Körpersprache abhängt, zu 38% von der Stimme und nur zu 7% von den gesprochenen Wörtern selbst. Oder anders formuliert: 93% der Kommunikation laufen im Prinzip non-verbal ab. Wirklich? Wer mal eine Minute darüber nachdenkt, wird möglicherweise zu dem Ergebnis kommen, dass das irgendwie nicht sein kann. Der «Erfinder» dieser Regel ist jedenfalls ziemlich sauer darüber, wie es so weit kommen konnte …

Was wirklich geschah

Im Jahr 1967 hat Albert Mehrabian, ein iranisch-amerikanischer Psychologe, Experimente durchgeführt, um hinter das Geheimnis von sogenannten «stillen Botschaften» zu kommen. Gemeint waren damit Botschaften, die in Sätzen wie zum Beispiel «Ich freue mich, Dich zu sehen» stecken. Denn: Werden wir so angesprochen, wissen wir, dass diese Aussage durchaus auch geheuchelt sein könnte. Deswegen versuchen wir auf anderem Weg rauszufinden, was an der Sache dran ist und achten unbewusst auf den Klang der Stimme und den Gesichtsausdruck unseres Gegenübers.

Bei den Experimenten ging es grob gesagt darum, dass die jeweils Zuhörenden anhand von einzelnen, gesprochenen Wörtern entscheiden sollten, ob sie von dem Sprecher sympathisch gefunden werden oder nicht. Und wovon sie sich bei der Bewertung leiten ließen. Das Ergebnis ist eben jene Zahlenreihe, die Albert Mehrabian berühmt machen sollte: 7-38-55. 7% das Wort selbst, 38% die Tonlage bzw. der wahrgenommene Unterton, 55% der Gesichtsausdruck.

Was daraus wurde

Ob böse Absicht oder Unachtsamkeit – diese Ergebnisse waren und sind für den ein oder anderen ein Geschenk. Zumindest für Kommunikations-, Sprech-, Auftritts- und Personality-Trainer. Denn mit etwas interpretatorischem Freiraum lässt sich daraus auch ein «Ach, Inhalte. Auf die kommt es gar nicht so sehr an, Hauptsache Performance und Präsenz stimmen» machen. Schließlich «wirkt man ja eh nur zu 7% über das, was man sagt …» Nein, das ist Unsinn. Findet Herr Mehrabian selbst auch. Er hat auf seiner eigenen Website und in diversen Interviews seinen Unmut darüber geäußert, dass die Ergebnisse seiner Experimente so lange und so hartnäckig fehlinterpretiert werden. Und betont immer wieder, dass sich die Untersuchungsergebnisse erstens ausschließlich auf die Kommunikation von Gefühlen und Haltungen beziehen, und zweitens die Prozentzahlen natürlich auch nur Näherungen sein können.

Was man trotzdem davon hat

Gut, die 7-38-55 Regel lässt sich nun nicht 1:1 auf den eigenen Vortrag oder die eigene Präsentation übertragen, doch das hinter dieser Regel liegende Wirkprinzip schon. Nämlich eine gefühlte Unwucht, wenn das, was ich höre nicht mit dem zusammenpasst, wie ich es höre und was ich dabei sehe.

_Ich als Zuhörer werde merken, ob es der Redner ernst meint mit dem, was er sagt.

_Eine künstliche, nicht zu dem Redner (und Inhalt) passende Körpersprache wird mich als Zuschauer irritieren.

_Ein unpassender und nicht so gelungener stimmlicher Auftritt macht es mir als Zuhörer wahrscheinlich schwerer, mich von dem Redner überzeugen zu lassen.

_Und ob ich als Zuhörer den Inhalt grundsätzlich wichtig finde, hängt von mir und meinen Interessen ab, ob ich ihn dann tatsächlich interessant finde, vom Inhalt selbst.

Anders ausgedrückt: Der Rahmen ist wichtig, aber nicht wichtiger als der Inhalt. Wer noch nicht überzeugt ist, möge sich zu Testzwecken mal einen fremdsprachigen Film ohne Untertitel anschauen. Wenn das mit den 7% doch irgendwie stimmt, dann müsste es ja ein Leichtes sein, alles zu verstehen.

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