@dominik_photography
Von Alice Blohmann | 9. September 2019
Authentizität

«Mich nicht verbiegen, Schluss machen mit Konventionen, Rücksicht, Einschränkungen und schonungslos die eigene Meinung vertreten. Einfach ich selbst sein, einfach authentisch sein.» Einfach? Authentisch? Weit davon entfernt. Das ist unberechenbar, unzuverlässig und launisch. Und ein bisschen faul. Denn Authentizität ist Arbeit.

Der Stein des Anstoßes

Unlängst in einem Video eines sehr bekannten Persönlichkeitsentwicklers, der sich auf Persönlichkeitstests spezialisiert hat (die üblichen Verdächtigen wie Reiss Profile, Disc, MBTI …). Im Interview spricht er vor vielen Weiterbildungsinteressierten davon, dass (O-Ton) «… wir 2 Personas sind. Die eine, die authentische ist die, die ich persönlich bin, die ich zuhause bin. Die andere, wenn ich draußen bin oder im Büro oder wenn meine Kinder was von mir wollen oder mein Partner. D. h. es gibt eine authentische Seite und eine angepasste.» Ja? Käse.

Ich bin viele

Kleines Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie haben 2 Kinder (5 und 9 Jahre alt), 20 Mitarbeitende, für die Sie als Führungskraft die Verantwortung haben, einen wundervollen Partner oder eine Partnerin, 4 Freunde, mit denen Sie zusammen in einer Band spielen (zur Bühnenreife reicht’s noch nicht, aber ihr arbeitet dran) und einen 87-jährigen Vater, der im Rollstuhl sitzt und nicht mehr ganz so gut hört. Jetzt die Frage: Wann, wo und mit wem sind Sie «echt» und «authentisch»? Wenn Sie morgens beim Frühstück Quatsch mit den Kindern machen? Wenn Sie vor den Mitarbeitenden eine Brandrede halten, weil diese die momentane Krise nach ihrem Dafürhalten ein bisschen zu locker sehen? Wenn Sie geduldig, langsam und ein bisschen lauter mit Ihrem Vater sprechen? Oder wenn Sie sich am Abend liebevoll von Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin das Köpfchen kraulen lassen?

Achtung Spoileralarm: All diese unterschiedlichen Facetten passen tatsächlich in eine einzige Persönlichkeit. Es ist eine irrige Annahme, es gäbe nur eine Echtheit und alles andere hieße Anpassung.

Sag’s mit Shakespeare

Ja, wir alle haben – ob wir wollen oder nicht – unterschiedliche Rollen. Und alle lassen sich authentisch ausfüllen. «Man selbst sein» kann man (fast) in jeder Rolle. Und was heißt das genau? Wer’s literarisch mag, Shakespeares Hamlet erklärt in wenigen Worten die Kernidee der Authentizität: «Dies über alles: Sei dir selbst treu.» Das heißt: im Einklang sein mit den eigenen Werten, Überzeugungen, Glaubensvorstellungen, Motiven und Emotionen. Das wiederum setzt voraus, Klarheit zu haben über die eigene Identität, Moral und Persönlichkeit.

Anleitung zum Authentischsein

Authentisch sein heißt echt sein. Echt im Sinne eines Originals. Aber wie weiß ich, was echt ist? Jetzt wird’s (ein bisschen) anstrengend, denn Authentizität hat viel mit Bewusstsein zu tun, mit Aufrichtigkeit, mit Selbstregulation, mit Kongruenz und Konsequenz. Authentisch kann ich sein (oder werden), wenn ich mich kenne. Meine Stärken und Schwächen, meine Gefühle und Motive für mein Verhalten. Diese Selbstkenntnis wiederum zeichnet sich durch Ehrlichkeit aus: Ehrlich ist der Blick auf mich selbst und ich bin bereit, Feedback von außen zu akzeptieren. Meine Werte und Überzeugungen steuern konsequent mein Handeln, und nicht nur dann, wenn es für mich grade von Vorteil ist. Das durch meine Gefühle und Stimmungen ausgelöste Verhalten kann ich angemessen steuern, und dieses Verhalten ist in sich stimmig, d. h. reden und tun passen zusammen, genauso wie die Worte zum Körper (Mimik, Gestik).

Die Wirkung macht’s

Das Bild, das eine als authentisch bezeichnete Person zeigt, wird vom Gegenüber als stimmig, ungekünstelt, ehrlich und aufrichtig wahrgenommen. Es wirkt (!) «echt» und macht spürbar, dass die Person zu sich steht. Mit allen Ecken und Kanten, allem Für und Wider. Die Betonung liegt auf «wirkt», denn es müssen gar nicht die tatsächlichen Eigenschaften sein, es kann auch Teil einer durchaus gelungenen Inszenierung sein. Die Hauptsache ist, es passt alles zusammen. Oder anders: Auch wenn ich von mir erwartete Rollen «spiele», heißt das nicht, dass ich meine Identität aufgebe oder aufgeben muss. Im Gegenteil: dadurch, dass ich verschiedene Rollen habe, werde und sollte ich diese auch unterschiedlich gestalten. Wer sich im Leben nur stur an eine Rolle hält, wirkt wenig empathisch, unmenschlich, unflexibel – wer sich hingegen ausschließlich von seinen «echten» Gefühlen leiten lässt, agiert blind und wird anecken. Authentisch zu sein ist ein Prozess. Und mit Arbeit verbunden.

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